Gesamtstrecke
Eigentlich hat alles ganz harmlos angefangen. Irgendwann stellten wir nach einer gemeinsamen Radtour fest, dass wir beide schon immer mal zur Ostsee mit dem Rad fahren wollten, nur noch keinen gefunden hatten, der die Reise mit uns antreten möchte. Thomas hatte nie die Leute mit dem nötigen Ehrgeiz. Ich schon, aber dafür nicht die, die mich Sportsmuffel und mein altes Fahrrad als Reisebegleiter haben wollten. Ein kurzer Blick und jeder von uns wusste, jetzt haben wir das Opfer, das wir schon lange gesucht haben.
Stolz erzählte ich mein Vorhaben meinen Kindern. Die schlagartig eintretende Stille und dann die Bemerkung, ich könne ja auch mit der Bahn fahren, ließ mich ahnen, auch sie hätten sich nicht mit mir auf die Reise gemacht. Meine Mutter, ihre Bekannten aus dem Garten entgegneten nur: „Mit dem Rad?“. Klar mit dem Rad, es war nicht nur mein Lieblinsrad, sondern auch das einzige, das ich besaß. Und es hat Charakter, Baujahr 1949, NSU-Rad, etwas angerostet UND es fährt.
Thomas hielt sich tapfer, wenn ich bei der Vorbereitung schon auf kleinen Strecken stöhnte. Mir war klar, er kann nicht mehr zurück, das zieht er mit mir durch. Besonderen Spaß schien es ihm zu bereiten, mich auf den Probestrecken an sandige Hügel zu führen, die mir schon wie Gebirge vorkamen. Das waren die Momente, in denen meine Selbstzweifel mit meinem Ehrgeiz rangen. Es musste also sein.
Freitag 21. August 2009
Dann war es soweit. Da wir bereits am Wochenende zuvor nach Bernau und zum Liepnitzsee gefahren sind, einigten wir uns, die S-Bahn bis nach Bernau zu nehmen und dort zu starten.
Schon beim Frühstück, was der entspannende Teil unseres Reisebeginns sein sollte, zeigte uns fieser, prasselnder Regen, dass nicht alles so laufen muss wie geplant. Während ich nervös mein Frühstück, von Entspannung keine Spur, einnahm, ließ der Regen jedoch nach und wandelte sich in einen mal mehr oder weniger starken Dauerniesel. Das war ein Moment, in dem ich die heute ständig verspätete, bestreikte oder defekte, von dem Großteil der angewiesenen Bevölkerung mit Beschimpfungen bedachte S-Bahn liebte. Immerhin fuhr sie uns trocken nach Bernau.
In Bernau nieselte es nur noch kontinuierlich vor sich hin, was uns nach dem ausgiebigen Regen am Morgen wie eine Gutwetterfront vorkam.
Es konnte also endlich losgehen.
Wir kamen gut voran, wobei die Abstände, in denen ich nach Pause und Essen rief, immer geringer wurden. Gegen ca. 18.00 Uhr sind wir in Warnitz am Campingplatz gelandet. In der Hoffnung auf eine morgendliche Dusche und einen Kaffee fragten wir, ob es die Möglichkeit gäbe, auf dem Platz zu übernachten. Eine freundliche Frau riet uns, lieber den letzten Klappfix zu mieten, da für die Nacht starker Regen angesagt sei. Dies erwies sich als der bester Tipp des Tages. Kaum hatten wir diesen erreicht, fing es an wie aus Kannen zu gießen. Wir wären an diesem Abend ohne Unterkunft echt aufgeschmissen gewesen.
Thomas ging oder schwamm noch schnell zur Verkaufstelle, um für den Abend etwas zu besorgen. Als er völlig durchnässt wiederkam, zog ich das Resümee, dass zumindest der erste Teil aus der Urgeschichte - Männer besorgen die Nahrung - äußerst angenehm war. Den zweiten Teil - Frauen bereiten zu - finde ich nach wie vor völlig überflüssig und überging ihn dann auch. Erschöpft aber glücklich schliefen wir ungewöhnlich zeitig ein.
Der nächste Tag meinte es dann wesentlich besser mit uns, die Sonne kämpfte sich durch, die Dusche und der Kaffee bekamen auf der Skala der schönen Dinge einen extrem hohen Stellenwert. Selbst die viel gefürchteten Gesäßschmerzen blieben nach dem ersten Abschnitt aus, so nahmen wir den zweiten wohlgelaunt in Angriff.
Samstag 22. August 2009: Warnitz - Ückermünde
Meine gute Laune wurde dann relativ zeitig von Erschöpfung und Verzweiflung verdrängt. Ich kam und kam nicht voran. Während Thomas noch zügig loszog, schien sich für mich jede Steigung zum unüberwindbaren Hindernis aufzutürmen. Für jeden Hügel musste ich Anlauf nehmen und hatte ich ihn endlich überwunden, zeigte sich schon der nächste. Mir war klar, so schaffen wir nicht mal 50 km - selbst die waren fraglich.
Thomas genoss die Zeit, die ich zum Atmen brauchte und nicht reden konnte. Es gab auf der Strecke genau 3 Dinge, die ich in den Atempausen noch ausstoßen konnte:
- „Scheiße!“ – wenn ein Berg in Sicht war
- „Hunger!!“ – alle 3 km
- „Wie viel km sind wir schon gefahren?“ – jede halbe Stunde
Thomas ertrug alles in stoischer Ruhe, wartete auf mich, versuchte mich moralisch aufzubauen. Zu allem Überfluss erklärte er mir ständig, dass die Strecke eigentlich ganz eben sei, was sich durch den nächsten Hügel als sowas von falsch erwies, dass ich kurz vor dem Aufgeben war.
Dann endlich kam auch ein Hoffnungsschimmer für mich, die Hügel nahmen tatsächlich ab. In Prenzlau angekommen, beschlossen wir, uns Essen und Wein zu kaufen, da sich die bisherige Strecke nicht gerade als Shopingparadies erwiesen hatte. Nicht dem Zufall trauend, auf den nächsten Kilometern wieder einen Laden zu finden, deckten wir uns mit Proviant und Wein ein. Um auf dieser ladenkargen Strecke das kostbare Nass zu schützen, wickelte Thomas eine Flasche Wein in den Schlafsack. Nun konnte nichts mehr passieren, also machten wir uns wieder auf den Weg.
Die Strecke war so gut, dass wir unbedingt noch nach Ückermünde wollten, um als Belohnung noch eine Flasche Wein am Wasser zu trinken. Mit kleinen Pausen kämpften wir uns bis nach Ückermünde durch. Dort fuhren wir erwartungsvoll durch die Straßen. Dann der erhoffte Augenblick - Hafen und Boote -einfach großartig. Alle Strapazen schienen abzufallen und ein Gefühl von Ruhe und Glück machte sich breit. Einhellig stellten wir fest, dass dies der richtige Ort und Zeitpunkt ist, um mit einem Wein auf das erreichte Ziel anzustoßen. Als wir gerade unsere Plastetassen mit Wein gefüllt hatten, zogen am Himmel fette, graue Wolken auf, die von jetzt auf gleich ein Dauerregen auf uns ergossen. Beim wilden Zusammenpacken stellten wir zu unserer Überraschung fest, dass es nicht nur nass von oben kam, sondern auch aus Thomas Schlafsack. "Die Weinflasche!", kam es von uns beiden wie aus einem Mund. Der Gedanke, dass der Schlafsack nun nass, nach Wein riechend und mit Scherben gespickt war, wir im Dauerregenguss ohne Unterkunft, steigerte nicht gerade die Romantik des Augenblicks. Wir stellten uns am Bahnhof unter, was schon fast komfortabel klingt, dieser Bahnhof ähnelte aber mehr einem Unterstand der Tram. Da sich jetzt auch noch die Kälte breit machte, krammten wir alles aus den Taschen und zogen uns, so gut es ging, warme Sachen an. Dann machten wir uns auf die Suche nach einem Nachtquartier. Am Strand fanden wir ein aus Holz gebautes Kletterboot, dass sich gut zu eignen schien.
Um uns vorher noch ein wenig aufzuwärmen, gingen wir in ein Café. Da auch dies einmal schließt, zogen wir zum Strand und richteten uns im Boot ein. Sicher, dass wir hier wind- und regengeschützt sind, teilten wir den Schlafsack, der nicht dem Wein zum Opfer gefallen ist, und versuchten zu schlafen. Es dauerte nicht lange, dann erhellte eine Taschenlampe unser Quartier. Eine mit deutscher Beflissenheit getränkte Stimme: "Strandwacht - hier können Sie nicht schlafen, das ist verboten", riss uns endgültig aus dem Halbschlaf. "Klar, das wissen wir, wir wollen nur die Sterne am Himmel ansehen", entgegnete ich. Ziemlich bekloppt bei Regen und im geschlossenen Boot, dachte ich noch, aber der Mensch von der Strandwacht sehnte sich offenbar auch nach einem trocken und warmen Ort und gab sich mit der Antwort zufrieden.
Der zweite Versuch zu schlafen scheiterte an einer Gruppe Jugendlicher, die leicht angetrunken, auf dem Boot herumkletterte und geradezu über unseren Köpfen anfing, die Rutsche auszuprobieren. Unsere Fahrräder hatten sie mit Erstaunen entdeckt - uns nicht. Nach einiger Zeit, mir kam es wie Stunden vor, zogen sie dann ab.
Endlich Ruhe! Dann setzte Thomas die Geräuschkulisse mit einem genüsslichen Schnarchen fort. Die Kälte tat den Rest, an Schlaf war also nicht zu denken. So übernahm ich das Amt unseres beflissenen Besuchers und wachte über den Strand und Thomas Schlaf. Um 4 Uhr war meine Geduld zu ende und nach meinem Ermessen Zeit aufzustehen. Ich rüttelte Thomas und teilte mit, dass ich sofort einen warmen Kaffee brauche. Thomas erwiderte dies mit einem Knurren und sowas wie noch 5 Minuten, die sich dann allerdings auf eine halbe Stunde ausdehnten. Im Warmen wäre das kein Problem, doch durchgefroren, völlig übermüdet fing ich an zu packen, was auch Thomas von der Ernsthaftigkeit meiner Absicht überzeugte und veranlasste, ebenfalls die Initiative zu ergreifen.
Nach einer notdürftigen Reinigung, einem kalten Kaffee aus der Kaufhalle und dem Versprechen von Thomas, dass es bei der nächsten Gelegenheit einen warmen Kaffee gibt, machten wir uns auf den Weg.
Übernachtung im "Schiff" mit Frühstück |
Sonntag 23. August 2009: Ückermünde - Ahlbeck
Überfahrt Karmin |
Montag 24. bis Dienstag 25. August 2009: Ahlbeck
Nach 2,5 Tagen, gefüllt mit ausgestoßenen Flüchen, Hoffnungsgebeten, vielen schönen Begebenheiten, konnten wir den Strand in Beschlag nehmen. Was ich mit einem richtig faulen Tag dann auch ausgiebig tun wollte. Indem ich noch in Gedanken versunken, stolz, dass ich wirklich am Ziel angekommen bin, die wohlverdiente Pause genoss, drangen die Worte: „Wollen wir uns nicht mal bewegen?“, in mein Ohr. Noch ungläubig, dass sie an mich, die gerade ihre sportliche Leistung des Lebens vollbracht hatte, gerichtet waren, versuchte ich diese zu ignorieren. Unglaublich - der Satz schien sich in Schleife abzuspielen und ich war tatsächlich gemeint. „Klar Thomas, gerne, kann ich bevor wir uns mal richtig bewegen - nach 270 km - noch ein paar Flickflacks zur Erwärmung über den Strand machen?“
Wer nun ein paar Bilder mit locker flockigen Flickflacks erwartet, den muss ich enttäuschen. Jetzt trat ich endgültig in den Streik. Lag in der Sonne, ließ den Wind über die Haut streifen, lauschte den Wellen und erhob mich ausschließlich um Kaffee zu holen, Essen zu fassen und abends mal alibimäßig ein kleines Sportspiel einzulegen. Dies ließ allerdings eher vermuten, dass ich mit einer ergotherapeutischen Gruppe und nicht mit dem Rad zur Ostsee gekommen bin.
Strandwächter |
Die Fahrräder haben Pause. |